Story: Als mich mein Vater enttäuschte

von Rahmany Asal, 5CG

Vorgeschichte

Kiana erinnerte sich noch später haargenau an jene Nacht, in der sie vollkommen außer sich, nach einem heftigen, endlosen Konflikt mit ihrer Familie, wortlos zum ersten Mal aus dem Haus geschlichen und in die nächstgelegene Stadt gefahren war. Eine Nacht, die ihr Leben mit Chaos und Magie vermischte, eine Stadt, die ihre Augen öffnete und ihr einen Blick auf die scheinbar unveränderbare Wahrheit gab. Eine Stadt, die im Kontrast zu dort, wo sie eigentlich wohnte, um ein Vielfaches ärmer war, eine Stadt, auf die die meisten Menschen mit Missbilligung schauten, weil sie entweder herzlos waren oder nicht die Kraft dazu hatten, mit eigenen Augen die hungernden und vor Sorge dunklen Gesichter der Kinder auszuhalten, gar sich in ihre Lage zu versetzen. So etwas ließ sie sich schuldig fühlen und nichts war nervtötender als das ewig anhaltende Gefühl der unverzeihlichen Schuld.  Kiana hatte sich dennoch dort auf eine der eiskalten Holzbänke gesetzt und angefangen zu weinen. Ihr Plan war es gewesen, sich so lange auszuheulen, bis irgendwann keine Tränen mehr übrigbleiben würden. Schluchzend wie ein Kind, das etwas Wertvolles verloren hatte, hatte sie die feuchte Regenluft eingeatmet, die Augen geschlossen und den Kopf zurückgelehnt, während salzige, trostlose Tränen ihre roten Wangen langsam hinunterrollten.

Und wie ein winziger, durchsichtiger Regentropfen, der plötzlich vom Himmel auf die Erde fiel, setzte sich eine ältere Frau mit einem tiefen Seufzer neben sie. Kiana warf ihr, kurzzeitig schockiert, von der Seite einen Blick auf ihre schlichte, längst aus der Mode gekommene Kleidung, zu, auf die Gesichtszüge der fremden Frau, so müde und voll Trauer, dann wanderten ihre Augen auf die rauen Hände, die so wirkten, als kannten sie nichts besser als harte, endlose Arbeit. Kiana wusste, sie war arm, wie es auch nicht anders von dieser gottverlassenen Stadt zu erwarten war, aber sie achtete kaum darauf, sie sah nur eine einsame Dame, ein blasses Gesicht mit Lachgrübchen, Zärtlichkeit in ihren Augen und ein kleines bisschen, wenn auch nur ganz wenig, Hoffnung, die sie leuchten ließ, wie ein Mond in aller Dunkelheit. ,,Mondgesicht‘‘, dachte sich Kiana gedankenverloren und hätte fast über den einfallslosen Spitznamen gelacht.  Die Frau bemerkte ihren Blick und versteckte hastig ihre Hände in der Jackentasche.  Halb beschämt und halb empört schaute sie Kiana an, als müsste sie sich zweimal überlegen, ob sie das Mädchen wegen seiner Manieren zurechtweisen sollte. Als ihr Kianas rot geschwollene Augen nach langem Starren auffielen, weichten sich ihre ernsten Züge augenblicklich auf. ,,Da spaziere ich hier in meiner gewöhnlich bitteren Stimmung, fest davon überzeugt, dass niemand unglücklicher ist als ich, und treffe auf dich.‘‘, sprach das Mondgesicht sie zögernd an und lächelte, wobei sie ihre Grübchen schön zur Geltung brachte. ,,Sag, Kind, bist du geisteskrank, so seelenverloren alleine, mitten in der Nacht draußen herumzusitzen und dazu noch zu weinen?‘‘ Kiana wischte sich über ihr tränennasses Gesicht, schüttelte leicht den Kopf und zwang sich zu einem kurzen Lächeln. Was hätte sie antworten sollen? Etwa, dass sie sich zuhause nicht wirklich zuhause fühlte, dass ihre ganze Familie von all dem lebte, das man den Menschen in dieser und den anderen Städten dieser Art wegnahm, dass ihr Vater für die Leute arbeitete, die das Land in ein hoffnungsloses Durcheinander gebracht und damit in Arm und Reich geteilt hatten? ,,Vielleicht. Was bringt Sie hierher?‘‘, erwiderte sie stattdessen, blickte zu ihr hinüber und blinzelte mit den Augen, weil sie von den vielen Tränen so schmerzten, sie musste wirklich lächerlich aussehen. Die Frau schaute bei ihrer Frage wieder weg, irgendwohin in die Ferne, bevor sie antwortete. ,,Ach, was denn wohl? Ich habe niemanden und nirgendwo mehr, ich musste heute meine Wohnung verlassen. Konnte die Miete nicht zahlen, weißt du, die Regierung verschlimmert von Tag zu Tag unser Leben. Die Preise steigen immer weiter, keiner kann sich mehr ein Stück Brot leisten, die Mehrheit der Menschen verliert die einzig übrigbleibenden Jobs und ihre Gehälter, mit denen sie eine ganze Familie ernähren‘‘, erklärte sie, die Verzweiflung in ihrer Stimme war nicht überhörbar, und schüttelte verärgert den Kopf, als verursachte jedes ihrer Worte Schmerzen. Das taten sie, sehr sogar. ,,Auch ich habe früher gearbeitet, in einer Nähfabrik. Alles verloren, weil wir für Menschenrechte demonstriert haben. Alles, was wir wollten, war eine Senkung der Preise von Nahrungsmitteln, Medikamenten. Alles, was wir wollten, war Freiheit. Stattdessen wurden wir angegriffen, attackiert. Sie haben meinen Sohn eingesperrt, weil er nicht an Religion glaubte, einfach so fortgezerrt von mir. Diese machtgierigen Diktatoren schwimmen in all dem Geld und Reichtum, das sie dem Land und den Menschen stehlen. Sie leben wie Götter und täuschen uns mit ihren leeren Versprechungen und steigen auf uns drauf, wie auf Ameisen‘‘, erzählte das Mondgesicht weiter und eine Träne wanderte ihre Wange hinunter.  Und mein Vater arbeitet für diese Verräter, hätte Kiana fast gesagt, aber sie hielt den Mund. Anderen 19-jährigen jungen Mädchen brach es das Herz, wenn ihr Freund mit ihnen Schluss machte, wie einigen ihrer Freundinnen, aber hier saß Kiana, im schwarzen Mantel der Nacht, so fassungslos, während ihr Herz in tausende Splitter zerbrach, wie ein Spiegel, um eine fremde Person, um die anderen fremden Menschen, die sie weder gesehen noch gekannt hatte, aber deren Schmerz sie mit eigenem Leib fühlen konnte. Sie wünschte, sie könnte ihrem Vater vor Augen führen, wie falsch das alles war, sie wünschte ihre Familie würde Verständnis zeigen. Sie hoffte und wünschte und hoffte noch inniger. ,,Tut mir leid, Kind. Jetzt bin ich der Grund, weshalb du wieder weinst‘‘, stellte die Frau fest und starrte entschuldigend auf ihre Füße. ,,Mein Vater hat vor, mich fortzuschicken, in ein anderes Land, angeblich, um mir mehr Möglichkeiten zu verschaffen, aber ich möchte das nicht. Und wir haben beide so viele Meinungsverschiedenheiten, die er einfach als unakzeptabel sieht, dabei versuche ich, das Richtige zu tun. Zwischen all meinen Geschwistern bin ich die Einzige, die er nicht hier haben will‘‘, sprudelte es nur so plötzlich aus Kiana heraus, als hätten die Worte die ganze Zeit in ihrem Hals gesteckt und mit jeder vergangenen Minute ihr jeden Atemzug erschwert. Aber jetzt waren sie ausgesprochen, jetzt waren sie frei und ohne ihre Last, fühlte Kiana sich so federleicht, so unbeschreiblich erleichtert, wie lange nicht mehr. ,,Keine Sorge, schlag deinen eigenen Weg ein, mein Kind, und die Zeit heilt alles. Du wirst schon sehen‘‘, gab das Mondgesicht nur zurück und gähnte erschöpft. ,,Manchmal komme ich mir vor, wie der Blutfleck im Schnee, in meiner Familie‘‘, setzte Kiana bitter fort, aber darauf erwartete sie keine Antwort.  Sie genoss die angenehme Stille und für einen Moment schauten Kiana und die alte Dame auf den rabenschwarzen Himmel, beide verloren in ihren eigenen unmöglichen Wünschen. Unendliche Sterne strahlten um die Wette und blickten mitleidig auf die müden Seelen der kleinen Menschen herab, als hörten sie geduldig jede Nacht ihre geheimsten Träume und Fantasien. Manchmal, wenn man lange genug auf sie hinaufstarrte, ihre Pracht von Weitem bewunderte, dann lächelten sie zurück, als versicherten sie einem, dass Unmöglichkeit für das Universum keine Rolle spielte, als versprächen sie, dass unseren innersten Wünschen nichts im Wege stehe. Und Sterne hielten sich an ihre Versprechen, besser als Menschen.

Dann raunte das Mondgesicht: ,,Ich würde sagen, du bist eher wie ein wilder Mohn in einem Strauß Stoffblumen.‘‘ Mit diesem Satz schloss sie friedlich ihre Augen und schlief ein. Kiana lächelte sanft, atmete noch ein letztes Mal ein und stand endlich auf. Sie legte ihren Mantel um die Dame und schob ihr alles Geld, das sie mit sich hatte, in die Jackentasche.  Sie schaute das Mondgesicht noch kurz an und ging zurück.

Und zum ersten Mal, seit langer Zeit, flüsterte ihr Herz ihr wieder die Richtung, und Kiana weigerte sich nicht, zuzuhören.

Fortsetzung folgt….